Alles im Leben funktioniert nach einem bestimmten Prinzip. Die einen nennen es Zufall, die anderen das Universum, die dritten erhitzen ihre Woodoo-Nadeln am Feuer und sind zu allem bereit. Ich glaube an nichts und mein einziger Talisman ist meine Kamera. Sie ist schwer genug um mich vom Feind zu schützen, vorausgesetzt ich werfe sie ihm rechtzeitig an den Kopf. Und in guten Zeiten macht sie tolle Bilder, wofür ich ihr dankbar bin. Nur das Motiv muss ich selbst suchen.
Jedes Jahr im Herbst mache ich mich auf den Weg nach Vogelsang. Dort, mitten im Wald liegt eine verlassene sowjetische Militärstadt. Sie ist faszinierend und immer anders, weil ihr Verfall unaufhörlich ist. Viele Gebäude wurden bereits abgerissen, um Platz für die Natur zu schaffen. Ich denke jedoch, dass es passiert um Arbeitsplätze zu schaffen, denn die Natur schafft sich ihren Platz selbst. Auf den Dächern der alten Kasernen wachsen Bäume und eine dicke Schicht grünen Moos bedeckt die zerfallenen Wände der ehemaligen Kantine.
Wer den Weg nach Vogelsang kennt, dem ist es kein schweres Unterfangen die verlassene Stadt zu finden. Ich habe gelernt mich auf mein Gedächtnis nicht zu verlassen und mache mir deshalb Gedächtnisstützen. In diesem Fall habe ich mir eine Karte gezeichnet, wo und wie ich durch den Wald gehen muss um schnellst möglich zum Ziel zu gelangen. Selbstverständlich kann ich ein Jahr später meine eigene Karte nicht lesen. Ich weiß nicht mehr, wo der große Baum ist, an dem ich abbiegen muss, weil hier im Wald alle Bäume groß sind.
Also kämpfe ich mich durch das Geäst und Gestrüpp, verfange mich in goldenen herbstlichen Spinnweben und erstarre vor Schreck, wenn der mächtige Wald Geräusche produziert, die ich nicht identifizieren kann. Wenn ich Angst habe, denke ich an die Liebe. Die aktuelle und verflossene, an die brutale und zärtliche. An eine Person denke ich im Speziellen. Es ist schon fast zehn Jahre her, vielleicht auch mehr. Unsere Liebesgeschichte war wie bei Shakespeare: „Lieben heißt Leiden“. So ist es mit vielen Liebesgeschichten, denke ich. Dass ich überhaupt etwas denke, merke ich erst, als ich hinter mir Schritte höre.
Da ist jemand, ein Wildschwein, ein Mensch oder ein Massenmörder. Bei Schreck setzt bei mir immer Starre ein. Ich bin nicht nur unfähig zu fliehen. Ich bin nicht mal fähig zu gehen. Also umklammere ich meine Kamera in Bereitschaft sie als Kampfwaffe einzusetzen.
Und im nächsten Moment kommt ein Wildschwein an die Lichtung.
Wie stehen uns gegenüber, Menschen und Tier und entscheiden, was als nächstes zu tun ist. Ich umklammere meine Kamera so sehr, dass ich meine Finger nicht mehr spüre. Scheiß auf die Liebe, denke ich. Aktuelle und verflossene. Ich muss mir endlich einen Pfefferspray anschaffen. Oder wenigstens ein Messer, mit dem ich mich vor dem Angreifer schützen kann.
Doch zum Schluß siegt die Liebe. Oder Gleichgültigkeit. Das Wildschwein dreht um und macht sich auf seinen eigenen Weg. Vielleicht hat es Familie und Kinder. Oder sucht Abenteuer, so wie ich.
Es gibt noch viel zu entdecken hier in Vogelsang, der verlassenen sowjetischen Militärstadt.
Text/Photos@Anna Livsic