Auf dem Dorf ist das Leben immer anders als in der Stadt. Es ist einfacher und staubiger. Es ist heller und ursprünglicher. In Tamragth ist ganz besonders das Licht. Es ist ein goldener Dreiklang aus Sonne, Luft und Meer. Es sind die Farben. Rote Häuser mit bunten Arabesken und unzählige weiße Sonnen der Satellitenschüssel auf den Dächern.
Unser Surfcamp ist auf einem Berg. Unter unserem Balkon grast ein Dromedar. Es ist groß und dunkel und irgendwann spreizt es seine Beine und kackt. Wir, die Großstadtkinder sind begeistert und zucken sofort unsere Kameras. Noch wissen wir nicht, dass wir auf dem Weg zum Strand Dutzende, ja Hunderte dieser Tiere sehen werden.
Touristen gibt es nur wenige hier. Und noch weniger Touristinnen. Vielleicht liegt es an der Jahreszeit, vielleicht ist es nur ein Zufall. Wir sind fast die einzigen Frauen am Strand und später die einzigen weiblichen Surfer im Wasser.
Überhaupt sehen wir überall nur Männer. Junge und Alte. Sie tragen traditionelle lange Gewänder und trinken den süßen Tee aus winzigen Gläsern. Sie hocken im Kreis und eine silberne geschnörkelte Kanne dampft vor ihnen. Alles scheint so wie damals, vor einer Ewigkeit.
Wir treffen auch moderne Marokkaner. Sie tragen überdeminsionale Sonnenbrillen und T-Shirts mit lateinischen Lettern auf der Brust. Sie lieben offene Schuhe. Keine Flip-Flops, sondern eine Art Sandalen, wo die Riemchen quer gehen oder sich kreuzen. Hauptsache, dass die Zehen rausschauen und nichts, aber auch gar nichts ihre Bewegungsfreiheit stört. Im Grunde stehen nicht nur Marokkaner, sondern alle Männer auf die Zehenfreihet. Oft habe ich das im Freibad beobachtet. Kurz vor dem Absprung, am Beckenrand, betrachten die Männer andächtig ihre Zehen und wagen sich erst dann in das kühle Nass. Aber vielleicht täusche ich mich und die Männer schauen einfach nur auf das Wasser.
Frauen sind da anders. Sie sind entschiedener. Sie springen sofort ab oder benutzen eine Treppe und steigen langsam aber sicher hinunter. Ihre Zehen interessieren sie nicht. Sie haben Wichtigeres zu tun.
Hier in Tamgrath haben wir keine Frauen gesehen. Weder auf der Straße, noch auf dem Markt. Nirgendwo.
Am letzten Abend surfen wir im Sonnenuntergang. Das Licht, es ist immer wieder das Licht. Ein besonderer Dreiklang aus Sonne, Luft und Meer, der glücklich macht. Es sind die Millionen Lichtreflexe, die schönen Schaumreihen, der Wind und das dumpfe Brausen am Devils´ Rock. Und es ist die unbeschreibliche Freude frei und draußen zu sein.
Und dann sehen wir sie. Sie trägt ein dunkles Gewand und ist so alt und ewig wie die Mutter Erde selbst. Sie schaut zum Wind und Wasser und alles goldene Licht der Welt legt sich auf ihre faltige Haut. Ihre Augen sind geschlossen. Sie hat alles erlebt: Geburten und Hochzeiten, Stürme, harte Arbeit, Feste und den Tod. Sie tauchte nach den Perlen des Glücks und holte sie an die Oberfläche des Lebens. Sie hat alles getan, was sie konnte. Nun sitzt sich auf einem Stein mit geschlossenen Augen und ein leises Lächeln fliegt über ihr Gesicht.
Und wir zucken unsere Kameras, weil wir alles Seltene und Schöne festhalten wollen. Aber keine Kamera der Welt wird sie so ablichten können, wie sie wirklich ist. Denn sie hat alles, was wir nie bis zum Schluss begreifen werden, wir die Großstadtkinder.
Photos/Text: Anna Livsic
# Marokko Tamragth Surfen April
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